Sonntag, 15. Mai 2016

Experten: "Systemische Missgriffe" bei der Geheimdienstkontrolle

Der frühere Bundesrichter und Abgeordnete Wolfgang Nešković hat die parlamentarische Überwachung von BND & Co. als völlig ineffektiv kritisiert. Der Ex-Bundesdatenschützer Peter Schaar beklagte "riesige kontrollfreie Räume".

Die Rufe nach einer besseren demokratischen Kontrolle des Bundesnachrichtendiensts (BND) und anderer deutscher Spionagebehörden werden parallel zur Aufarbeitung des NSA-Skandals im Bundestag immer lauter. Die Überwachung der Überwacher sei nur "in der Hinsicht effektiv, dass sie optimal ineffektiv ist", monierte Wolfgang Nešković, Ex-Richter am Bundesgerichtshof und früheres Mitglied des Parlamentarischen Kontrollgremiums PKGr des Bundestags, am Dienstag auf einer Tagung zivilgesellschaftlicher Organisationen zu "grund- und menschenrechtlichen Anforderungen an die Kommunikationsüberwachung" des BND. "Systemische Missgriffe" rund um die Institution müssten abgeschafft werden.

Nešković räumte zunächst mit dem Mythos auf, dass das PKGr die Nachrichtendienste direkt in den Blick nähme. "Wir kontrollieren die Kontrolltätigkeit der Regierungsaufsicht", berichtete er aus seiner siebenjährigen Zeit bei dem Gremium. Außen vor blieben schon "60 bis 70 Prozent" des BND-Gesamtmaterials, da diese mit Informationen ausländischer Geheimdienste verknüpft und damit für die demokratischen Aufpasser tabu seien. Auch der dehnbare Bereich der "exekutiven Eigenverantwortung" dürfe nicht einbezogen werden.

Von sich aus müsse der Auslandsgeheimdienst zudem nur über Vorkommnisse von "besonderer Bedeutung" dem PKGr berichten, führte der einst für die Linksfraktion im Bundestag sitzende Parteiunabhängige aus. Damit hätten die Agenten "letztlich freie Auswahl, was sie vorlegen". Fragerunden verkämen so oft zur reinen "Märchenstunde", wenn nicht Presseberichte Anhaltspunkte für konkrete Nachforschungen bildeten. Zudem leide das Gremium an "institutionalisierte Antriebsarmut", da nur die Mehrheit Untersuchungsverfahren einleiten und Berichte öffentlich machen könne.

Peter Schaar verwies aus seiner früheren Tätigkeit als Bundesdatenschutzbeauftragter auf "riesige kontrollfreie Räume" beim BND. Die reine Ausland-Ausland-Überwachung mit sogenannten Transit- oder Routineverkehren dürfe etwa weder von der G10-Kommission des Bundestags geprüft werden, die Abhöranordnungen für hiesige Grundrechtsträger und Suchbegriffe für die strategische Telekommunikationsaufklärung genehmigt, noch von der Bundesdatenschutzbehörde. Letzteres habe ihm das Bundesinnenministerium mit "grenzwertigen Schreiben" verdeutlicht.

So komme es zu dem "strukturellen Problem", dass "nirgends ein Gesamtbild entsteht", erläuterte Schaar. Die Kontrollregimes müssten daher verknüpft und eine "quasi-justizielle" Instanz geschaffen werde, die auch präventiv arbeite und mit einem "Anwalt der Bürgerrechte" bestückt sei.

Die Staatsrechtler Matthias Bäcker und Christoph Gusy waren sich einig, dass der BND vor allem bei der Überwachung rein ausländischer Kommunikation in einem weitgehend rechtsfreien Raum agiere, in dem sogar Speicher- und Löschfristen Fehlanzeige seien. In diesem Fall sei es "unklar, welches Gesetz man anwenden muss", zeigte sich Bäcker perplex. Er tue sich schwer mit der Position der Bundesregierung, dass hier der Schutz des Fernmeldegeheimnisses nicht greife. Die BND-Tätigkeit bleibe insgesamt "juristisch so ein bisschen unsichtbar".

Mit seiner abgehobenen "Weltraumtheorie" habe der BND an seinem Horchposten in Bad Aibling "den Ausstieg aus den Grundrechten geschafft", ergänzte Gusy. Die These werde zwar "von niemand außerhalb der Nachrichtendienste selbst vertreten". Der BND erkläre damit aber die "Erhebung und Verwendung" von Auslandskommunikation für "grundrechtsfrei". Keine Regeln enthalte das Gesetz für den Geheimdienst auch für dessen Praxis, Kommunikationsanschlüsse mit Verbindungsdaten abzugrenzen zu versuchen. In dieses Verfahren seien die Grundrechtseingriffe schon von vornherein eingeschlossen.

Ob aus den laut Schaar "zaghaften" Initiativen des Bundeskanzleramts oder der Koalition noch etwas wird, den BND stärker an die Kandare zu nehmen, erschien vielen Rednern zweifelhaft. Georg Mascolo, Leiter des Rechercheverbunds von NDR, WDR und Süddeutscher Zeitung, machte hier einen Dissens "in der Regierung zwischen verschiedenen Denkschulen" aus. Der frühere Innen- und jetzige Finanzminister Wolfgang Schäuble (CDU) etwa führe ein Lager an, wonach die Politik aufpassen müsse, es mit der parlamentarischen Kontrolle nicht zu übertreiben. Die Dienste seien schon jetzt verunsichert, zudem würden zu viele Dinge nach außen getragen.

Die andere Seite wolle eine Art "Parlamentsgeheimdienst" vergleichbar zum Genehmigungsverfahren für Bundeswehreinsätze, konstatierte Mascolo. Im Bundestag selbst regten sich fast alle Abgeordnete dagegen parteiübergreifend darüber auf, dass sie über wesentliche Vorkommnisse rund um die Kooperation zwischen NSA und BND "nicht oder falsch informiert worden" seien. Er habe auch selten etwas Eklatanteres erlebt wie die Tatsache, dass das Parlament "so lange in die Irre geführt worden ist". Ohne den NSA-Untersuchungsausschuss und Presseberichte wäre vieles daraus nicht öffentlich geworden. Aus dem Skandal werde aber wohl eher die Industrie Konsequenzen ziehen als der Gesetzgeber.

Thorsten Wetzling, der im Namen der Stiftung Neue Verantwortung Vorschlägefür eine effektivere Geheimdienstkontrolle skizziert hat, befürchtete, dass die geplante Reform zwischen einer "Lizenz zum Lügen" und einer "zum Schlafen" landen werde. Die große Gefahr sei, dass die G10-Kommission nicht für die Auslandsaufklärung zuständig werde. Der zunächst angestrebte bessere Schutz von EU-Bürgern und -Institutionen vor BND-Spähmaßnahmen gelte bei allen Beteiligten inzwischen als "Verhandlungsmasse".